Scheinselbständigkeit
Ob Sie Handelsvertreter, Franchisenehmer, selbständiger Frachtführer oder Selbständiger in anderer Rechtsform sind - eines haben alle diese Gruppen gemeinsam: Wenn Ihre Selbständigkeit nur dem Schein nach, nur auf dem Papier, besteht, geht sie mit einer Abhängigkeit und einer Benachteiligung gegenüber Ihrem Vertragspartner einher. Diese Abhängigkeit macht Sie schutzbedürftig und führt unter bestimmten Voraussetzungen dazu, dass Ihr Vertragsverhältnis in Wirklichkeit als Arbeitsverhältnis einzustufen ist. Dann
- sind Sie in arbeitsrechtlicher Hinsicht Arbeitnehmer und können den Schutz in Anspruch nehmen, den arbeitsrechtliche Gesetze Arbeitnehmern bieten (Kündigungsschutz, Urlaubsanspruch, Entgeltfortzahlung bei Krankheit u.v.m);
- üben Sie in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht eine versicherungspflichtige unselbständige Beschäftigung aus und sind insoweit wie ein Arbeitnehmer pflichtversichert.
Sowohl arbeitsrechtlich wie sozialversicherungsrechtlich hängt die Beurteilung der Frage, ob z.B. ein Handelsvertreter als selbständiger Kaufmann oder aber als Arbeitnehmer einzustufen ist, von einer Fülle von Kriterien und einer Gesamtwürdigung aller Umstände im Einzelfall ab.
§ 84 Abs. 1 und 2 HGB bestimmt: „Selbständig ist, wer im wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. (…) Wer, ohne selbständig im Sinne des Absatzes 1 zu sein, ständig damit betraut ist, für einen Unternehmer Geschäfte zu vermitteln oder in dessen Namen abzuschließen, gilt als Angestellter.“
Daraus hat die Rechtsprechung den Grundsatz entwickelt, dass
- Arbeitnehmer ist, wer persönlich von seinem Vertragspartner, dem Arbeitgeber, abhängig ist, weil er weder die Art und Weise seiner Tätigkeit noch den Ort und die Zeit selbst bestimmen kann, sondern insoweit den Weisungen des Arbeitgebers unterliegt, und dass umgekehrt
- als Selbständiger einzustufen ist, wer die Art und Weise seiner Tätigkeit im wesentlichen frei selbst gestalten und den Ort und die Zeit selbst bestimmen kann.
Dieser Grundsatz wird anhand einer Vielzahl einzelner Kriterien ausdifferenziert und umgesetzt und so im Einzelfall die Entscheidung über Selbstständigkeit oder Arbeitnehmereigenschaft getroffen. Maßgebend ist dabei nicht, was im Vertrag steht, sondern wie die Praxis aussieht und was im Alltag geschieht. Daher kann ein Handelsvertreter, dessen Vertrag eine selbständige Tätigkeit vorsieht, in Wirklichkeit Arbeitnehmer sein und alle Rechte des Arbeitnehmers in Anspruch nehmen.
- Daneben gibt es im Sozialversicherungsrecht die sog. arbeitnehmerähnlichen Selbständigen. Das sind Personen, die in arbeitsrechtlicher wie in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht nach den oben genannten Kriterien als Selbständige eingestuft werden. Als Selbständige wären sie eigentlich auch nicht versicherungspflichtig. Andererseits steht diese Gruppe in „ähnlicher“ Abhängigkeit von dem Unternehmen, für das sie tätig ist, wie deren Arbeitnehmer, so dass gesetzlich ausnahmsweise eine Versicherungspflicht auch für sie festgelegt worden ist. Die Folge ist, dass die arbeitnehmerähnlichen Selbständigen Sozialversicherungsbeiträge zahlen müssen und im Alter Rente beziehen können, allerdings mit dem Unterschied, dass sie anders als Arbeitnehmer die Beiträge in voller Höhe selbst, aus dem eigenen Einkommen aufbringen müssen. Auch auf der Ebene des Arbeitsrechts genießen die arbeitnehmerähnlichen Personen gewisse Schutzrechte, die aber in der Praxis keine größere Rolle spielen.
Die Folgen sind enorm:
- Als Selbständiger steht Ihnen bezahlter Urlaub nicht zu und erhalten Sie keine Vergütung, wenn Sie krank sind. Es sei denn, Sie bezahlen einen Vertreter, mit der entsprechenden Einkommenseinbuße.
- Einem selbständigen Handelsvertreter kann das Unternehmen, das ihn beschäftigt, jederzeit und ohne Grund kündigen und muß nur die vertraglich vereinbarte oder die gesetzliche Kündigungsfrist wahren. Für die Kündigung eines angestellten Filialleiters muß hingegen ein Grund vorliegen und vom Arbeitgeber bewiesen werden, der die Kündigung als sozial gerechtfertigt erscheinen lässt, müssen Kündigungsverbote für bestimmte besonders schutzbedürftige Gruppen beachtet werden u.v.m.
- Als Selbständiger müssen Sie für Ihre Einkünfte im Alter ganz allein und vollständig auf eigene Kosten vorsorgen, müssen sich privat krankenversichern und haben keine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. An den Sozialversicherungsbeiträgen der Arbeitnehmer muss der Arbeitgeber sich etwa zur Hälfte beteiligen. Die Arbeitnehmeranteile muss er einbehalten und abführen. Tut er dies nicht, z.B. weil er fälschlicherweise angenommen hat, dass er den Mitarbeiter als Selbständigen beschäftigt, so haftet er der Sozialversicherung über Jahre hinweg und ganz allein für die Nachzahlung der Beiträge, ohne dass er diese anteilig vom Arbeitnehmer zurückverlangen kann. Der Einbehalt von Arbeitnehmeranteilen an den Sozialversicherungsbeiträgen ist nämlich nur für jeweils 3 Monate im nachhinein zulässig, eine Vorschrift, die nur wenigen betroffenen Arbeitnehmern bekannt ist.
- Anders bei arbeitnehmerähnlichen Selbständigen: Diese haften ganz allein für die Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge, und so lange im nachhinein, bis die Beitragsansprüche verjährt sind.
Daher kann es für Sie erhebliche finanzielle Folgen haben, wenn sich erst nach Ablauf mehrerer Jahre klärt, ob Sie selbständiger Handelsvertreter, Arbeitnehmer oder aber arbeitnehmerähnlicher Selbständiger sind. Dem sollten Sie vorbeugen:
Lassen Sie die Rechtsnatur Ihres Vertragsverhältnisses frühzeitig prüfen, wenn die Selbständigkeit nicht Ihre eigene Idee war und/oder
wenn Sie Anhaltspunkte dafür sehen, dass Ihr Vertragsverhältnis in Wirklichkeit ein Arbeitsverhältnis darstellt, bzw.
wenn Sie befürchten dass Sie im Falle einer Betriebsprüfung durch die Sozialversicherung möglicherweise als arbeitnehmerähnlicher Selbständiger eingestuft werden.
Wenden Sie sich zu diesem Zweck entweder die Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung Bund für sozialversicherungsrechtliche Statusfragen, wenn Sie Vertrauen in die Unabhängigkeit der Clearingstelle haben, oder an einen Fachanwalt für Arbeitsrecht bzw. Sozialrecht.
Für die Beurteilung, ob Scheinselbständigkeit, d.h. ein Arbeitsverhältnis und Sozialversicherungspflicht, vorliegt, haben in der Praxis folgende Indizien eine besondere Bedeutung:
- ob Sie im wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig sind; als Indiz für die Scheinselbständigkeit wird es beispielsweise häufig gewertet, wenn Sie mehr als fünf Sechstel Ihres Umsatze nur von einem Auftraggeber beziehen;
- ob Sie eine im wesentlichen gleiche Tätigkeit zuvor bereits als Arbeitnehmer bei dem jetzigen Auftraggeber ausgeübt haben;
- ob Ihr Auftraggeber die Tätigkeiten, die er Ihnen übertragen hat, oder vergleichbare Tätigkeiten, regelmäßig auch durch eigene Arbeitnehmer ausführen lässt;
- ob Sie weisungsgebunden und in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers eingebunden sind (z.B.: eng gesteckte Vorgaben betreffend die Tätigkeitsausübung und deren Überwachung; Geräte und Material stellt der Auftraggeber; keine eigenen Geschäftsräume; kein eigenes Firmenschild; kein eigenes Briefpapier; kein spezifisch unternehmerischer Entscheidungsfreiraum betreffend Preise, Bezugsquellen, Kapital- und Personaleinsatz etc.);
- ob Sie Mitarbeiter in sozialversicherungspflichtigem Umfang beschäftigen; geringfügige Beschäftigung zählt insoweit nicht;
Treffen diese Indizien überwiegend auf Sie zu, empfiehlt es sich dringend, Ihren Status als Selbständiger, Arbeitnehmer oder arbeitnehmerähnlicher Selbständiger klären zu lassen, damit Sie nicht im nachhinein unangenehme und teure Überraschungen erleben müssen.
Gelangt Ihr Berater zu dem Ergebnis, dass Sie nur auf dem Papier selbständig, nach der Ausgestaltung und Handhabung in der Vertragspraxis hingegen Arbeitnehmer sind, können Sie dieses Ergebnis im Wege einer Klage vor dem Arbeitsgericht festschreiben lassen. Ebenso ist es zu empfehlen, die Aussichten einer Feststellungsklage auf Bestehen eines Arbeitsverhältnisses durch einen Fachanwalt gegenprüfen zu lassen, wenn die Rentenversicherung im Rahmen einer Betriebsprüfung oder eines Clearingverfahrens zu dem Ergebnis gelangt, dass Sie sozialversicherungsrechtlich als arbeitnehmerähnlicher Selbständiger einzustufen sind. Stellt nämlich das Arbeitsgericht fest, dass Sie Arbeitnehmer und kein Selbständiger sind, so ist dies auch für die Sozialversicherung verbindlich und muss der Arbeitgeber sich an den Sozialversicherungsbeiträgen beteiligen, die Sie ansonsten allein tragen müssten. Deshalb gilt
Geben Sie nicht vorschnell auf. Als Arbeitnehmer sind Sie gegenüber Zumutungen Ihres Auftraggebers wesentlich besser geschützt als ein Selbständiger. Wo es begründete Zweifel gibt, ob ein Arbeitsverhältnis oder Selbständigkeit vorliegt, bringt nur die intensive Prüfung im Rahmen eines arbeitsgerichtlichen Klageverfahrens eine Klärung. Scheuen Sie daher eine solche Klärung nicht, sofern Sie die Kosten dafür aufbringen können. Es geht um ganz erhebliche Folgewirkungen – Ihren rechtlichen Schutz und unter Umständen um viel Geld - so dass die Kosten aufzubringen im Hinblick auf Chancen und Risiken lohnt.